Ich hab' die Wahrheit

Disput über die Wahrheit zwischen DI Dr. Karl Pongracz (P), Physiker, und Prof. Mag. Dr. Walter Weiss (W), Philosoph

Ausgangspunkt der folgenden, über das Medium des Internet via E-Mails geführten Dialoges war ein Artikel in den "Wissenschaftlichen Nachrichten", den Prof. Mag. Erwin Kohaut und Prof. Mag. Dr. Walter Weiss über "Parapsychologie und Naturwissenschaft" veröffentlicht haben (W. N. 117;November/Dezember 2001, Seiten 3-8). DI Dr. Karl Pongracz, mit beiden befreundet, hat via Internet den Artikel sowohl lobend als auch kritisierend kommentiert, was in den vorliegenden Disput mit Walter Weiss gipfelte. Prof. Mag. Erwin Kohaut, der von den beiden "Kontrahenten" jeweils mit CCs (also Mail-Kopien) auf dem laufenden gehalten wurde, kommentierte seinerseits den Kommentar der beiden mit: "Euer Zwiegespräch war für mich jedenfalls so ziemlich die beste philosophische Unterhaltung, die ich kenne. Kannst Du das nicht in Buchform herausbringen?" Und in einer darauffolgenden Mail: "Das wird eine Gaudi für die W. N.-Leser - aber nur dann, wenn Du nicht allzuviel umänderst, z. B. das ganze Persönliche rausschmeißt. Gerade das ist so witzig in so einer anspruchsvollen Diskussion." Und er legte noch dazu: "Die üblichen philosophischen Dialoge sind nämlich wirklich oft gequälte Klugscheißereien und klingen so, als hätte man die Beteiligten mit einer Zitronenpresse gequetscht, damit sie etwas absondern." Wir sind seinem Publikationsrat daher gefolgt ... (Karl Pongracz, Walter Weiss) 

P.: Für meinen Geschmack ist der Artikel [über Parapsychologie und Naturwissenschaft] etwas zu wenig bissig. Ich hätte in Anlehnung an Ken Wilber gesagt: Die Naturwissenschaft befaßt sich mit Meßbarem und den Grundkräften. Sie weiß jedoch nichts von der Kraft der Liebe oder des Hasses, nichts von der Kraft der Hoffnung oder der Verzweiflung (die etwa einen Stefan Zweig in den Selbstmord trieb) - die Naturwissenschaft befaßt sich gar nicht mit der Welt! 
Die Naturwissenschaft befaßt sich mit einem Teil der Welt. Sie postuliert die Existenz dieser Welt, von der sie aber nur einen (geringen) Teil sieht (und das verzerrt). Des Pudels Kern ist meines Erachtens die Grenzüberschreitung. Die naturwissenschaftliche Methode ist eine hervorragende Methode, um zu Erkenntnis zu gelangen. Manche sagen auch "Wahrheit", aber auf die Frage, was Wahrheit sei, hat schon Christus nicht geantwortet; ich tue's auch nicht.

W.: Ich schon. Die "absolute Wahrheit" ist jene, die die Möglichkeit zur Negation (= falsch oder "Lüge") ausschließt: sie ist transrational, weil sie das Sein schlechthin umfasst - weil es das Nichts ja nicht "geben" kann, da das Nichts vom Sein oder Seiend-sein explizit ausgeschlossen ist). Wir landen daher beim: Ens et unum, pulchrum, bonum, verum convertuntur. Wahr ist also das Sein - und damit alles Seiende, da ja das Sein nur seiend "ist" (und es ja kein vom Seienden abgelöstes Sein - also ein quasi im Nachhinein realisiertes oder konkretisiertes - gibt; das wäre ja die berühmt-berüchtigte Verdoppelung der Welt in ein Dies- und ein Jenseits...). Also ist die Natur als Summe alles Seienden (= Konkretisierten) wahr (und natürlich auch gut und schön und eins usw.). Wir haben tatsächlich stets nur subjektive (oder bestenfalls: "intersubjektive") Wahrheiten - egal jetzt, ob es sich um Naturwissenschaft oder Religion handelt, also um Diesseitsreligion oder Jenseitsideologie. 

P.: Die naturwissenschaftliche Methode liefert intersubjektive Erkenntnis - nicht mehr, aber auch nicht weniger! Sie gibt Wahrheit, wenn man es so haben will, doch immer eine Teilwahrheit. Die Teilwahrheit ist sichtbar, meßbar, berechenbar. Das ist viel. Doch die ganze Wahrheit ist unsichtbar...

W.: Aber denkbar!

P.: ... unmeßbar ...

W.: Natürlich!

P.: ... unberechenbar (in des Wortes doppelter Bedeutung). 

W.: Na klar!

P.: Aber sie existiert. 

W.: Naja: "Existieren" tut Seiendes, alles andere "gibt" es "nur" (man kann das auch umdrehen). Alles, was ohne Alternative ist, ist wahr - also unsere gesamte Welt (siehe oben). Teilaspekte davon sind meßbar (Naturwissenschaft), andere Aspekte sind nur denk- oder (irgendwie jedenfalls) "erfahrbar" (jetzt z. B. durch mich oder uns, wenn Du verstehst, was ich meine ...)

P.: Die Wahrheit ist nicht mit einer bestimmten Methode erkennbar, wenn überhaupt. 

W.: Doch: Mit meiner, also der Methode des die Vernunft (grenz-)überscheitenden Denkens. Da sind wir (hoffentlich) fast gleicher Meinung - - -

P.: Jedenfalls ist ein Teil der ganzen Wahrheit nicht mit der wissenschaftlichen Methode erkennbar
(Eddingtons Netz).

W.: Teil ist immer nur im Rahmen der Vernunft sinnvoll (also im Rahmen der Naturwissenschaft); die erkennt meinetwegen nur einen "Teil" der ganzen Wahrheit - der verbleibende "Rest" ist aber kein "Teil", sondern umfaßt immer ALLES! 

P.: Somit haben wir zwei (gleichberechtigte?) Wege ...

W.: Nein: Der Weg der Naturwissenschaft hat immer Nachrang Nur wissen die dort das nicht!

P.: ... die wissenschaftliche und die, nennen wir sie so, "philosophische" Methode (die Bezeichnung ist so schlecht nicht, denn "Weisheit" ist auch oft akausal).

W.: Nein: Weisheit ist immer akausal, weil Kausalität eine Kategorie des - vernünftigen - Denkens ist, Weisheit aber die Vernunft transzendiert (und damit auch die Kausalität!).

P.: Darin liegt die Grenzüberschreitung: Wenn die Wissenschaft behauptet, die Teilwahrheit sei die ganze Wahrheit ...

W.: Das ist keine Grenzüberschreitung, das ist Präpotenz der Naturwissenschaft!

P.: ... wenn die Wissenschaft behauptet, die andere Wahrheit, die unsichtbare und unberechenbare, existiere überhaupt nicht ...

W.: Das ist noch größere Anmaßung der Naturwissenschaft und in seiner Speerspitze des Stephen Hawking!

P.: ... oder wenn die andere Seite, die philosophische, behauptet, ihre Teilwahrheit sei die ganze Wahrheit!

W.: Sorry, Sir: Wer sonst, als die Philosophie hätte die ganze Wahrheit (siehe oben: Wir hatten bzw. haben sie schon!)? Ansonsten gibt es eben nur bewußte Teilwahrheiten. Das Sein (oder alles Seiende, die Natur, die Welt, das Universum oder alle Multiversa) ist/sind aber alternativlos wahr. Bewußtseinsabhängig sind natürlich alle bewußtseinsabhängigen Ordnungen (das ist kein Pleonasmus!) - aber die "reine " (=absulute?) Wahrheit ist alternativlos und ergo bewußtseinsunabhängig (weil es das Wesen von Bewußtsein ist, negieren zu müssen - das ist ja auch das "Charisma" des Luzifers, des "Leuchtentragers" im Mythos: daß die Negation aus bzw. von Gott selbst abfällt bzw. stammt - als Negation nämlich! Woher käme sie sonst auch, wenn es nur das (oder "den") EINE(N) gibt?

P.: Sir! Da ist einiges schlampig oder unscharf gedacht - von mir schlampig, von Dir unscharf, denn ein Weiss denkt nicht schlampig, oder?

W.: Nein, nur manchmal falsch - aber diesmal nicht!

P.: Trotzdem, lieber Walter, jetzt aber zur "absoluten Wahrheit" etwas länger - und schärfer - gedacht: Du behauptest, die absolute Wahrheit existiere nicht. Korrekt. Was Du über die absolute Wahrheit sagst, stimmt vollständig, wenn man "Wahrheit" durch "Sein" ersetzt. In der Philosophie wird der Wahrheitsbegriff aber zumeist prädikativ als Bestimmung von Urteilen, Aussagen oder Sätzen verwendet, manchmal auch in bezug auf mentale Akte und Zustände. Von der prädikativen Verwendung des Wahrheitsbegriffes ist die attributive und die substantive Verwendung zu unterscheiden. In einem attributivem Gebrauch ist gemeint, daß ein Ereignis oder Ding echt, wirklich oder gut ist. 

W.: Richtig; das alles entspricht meinen relativen Wahrheiten. Diese sind also im engeren Sinn gar keine "Wahrheiten", sondern nur richtige oder falsche Aussagen - oder Bewertungen; und die haben mit Wahrheit überhaupt nichts zu tun, sondern sind stets nur subjektive Urteile und sonst nichts. 

P.: Häufig liegt diesem Begriff von Wahrheit aber die Vorstellung zugrunde, daß es für jedes Ding eine ideale Gestalt gebe und daß ein Ding um so "wahrer" werde, je näher es diesem Ideal kommt.

W.: Das ist natürlich grundfalsch, denn ein Ideal hat mit - relativer! - Wahrheit nichts zu tun; außerdem kann man "wahr" nicht steigern: entweder entspricht etwas dem für wahr Gehaltenen (sic!) oder nicht. Wenn nein, dann ist es eben nicht wahr, aber nicht notwendigerweise falsch. Nur ist die Aussage: "Dies entspricht dem für wahr Gehaltenen" eben dann falsch, wenn diese Entsprechung nicht besteht. Was sollte hier steigerbar sein? Und Ideale sind ja auch nichts anderes, als bloße Projektionen von etwas für vollkommen Gehaltenen oder Angestrebten - und ersteres gibt es in unserer Welt gar nicht, und angestrebtes Vollkommenes (welch semantischer Widersinn!) ist eben nur in seiner Unvollkommenheit real, weil alle Konkretionen von Idealen von diesen "meilenweit" entfernt sind und ihnen bestenfalls im "Gemeinten" (=in ihrem Wesen) entsprechen (auch "Abbild" genannt).

P.: In den Wahrheitstheorien wird zumeist der prädikative Gebrauch untersucht. 

W.: So sollte es zumindest sein.

P.: Um den Begriff "absolute Wahrheit" richtig zu verstehen, muß man bedenken, daß dieser Terminus mehrere Bedeutungen hat: 
1. Absolute Wahrheit ist absolutes Wissen über die Wirklichkeit insgesamt, d. h. über die ganze Welt ...

W.: Genau das ist die absolute Wahrheit nicht!

P.: ... und 2. Absolute Wahrheit ist jener Teil der relativen Wahrheiten, der erhalten bleibt und im Prozeß der Erkenntnisentwicklung anwächst...

W.: Wo hast Du denn das her? Ich weiß, von irgendeinem Neunmalklugen; aber das beeindruckt mich nicht. Dieser Satz ist für mich völlig konfus. Wie kann etwas "Absolutes" (das nicht einmal ein Etwas ist!) "von etwas" (also von einem Konkreten) "ein Teil" (also etwas Realisiertes!) sein? Wie kann Absolutes "anwachsen"? Seltsam, daß Dir sowas von den Lippen kommt ...

P.: ... Lichtenberg sagte, die Wahrheit sei die Asymptote der Forschung und 3. ist absolutes Wissen endgültiges Wissen über einige bestimmte Aspekte der Wirklichkeit...

W.: Der Begriff "absolutes Wissen" ist genauso bescheuert wie der des viereckigen Kreises. Und endgültiges Wissen kann es nie geben, weil Wissen immer Stückwerk, weil subjektiv (oder bestenfalls intersubjektiv) ist. Aber was ist das schon im Vergleich zum Absoluten? (Was immer das auch nun wieder sein mag - aber wir verwenden den Begriff dafür immerhin!)

P.: ... weiters 4. Die absolute Wahrheit umfaßt gewisse unwiderlegbare Resultate der Erkenntnis über einzelne Seiten untersuchter Objekte oder Klassen von Objekten in Form von Konstatierungen und Beschreibungen. 

W.: Absolut nein. Die absolute Wahrheit ist - so wie Du sie hier verstehst - eine Schimäre. Wie ich sie verstehe, ist sie alles, was ist.

P.: Alle diese Bedeutungen stehen miteinander in Zusammenhang, aber nur in der ersten Bedeutung ist die absolute Wahrheit erschöpfendes, allgemeines, absolutes Wissen.

W.: Auch wenn Du Dich wiederholst, bleibt es falsch!

P.: Eng verwandt mit dem Begriff der absoluten Wahrheit ist der Begriff der objektiven Wahrheit. 

W.: Eng? Es gibt nichts Widersprüchlicheres!

P.: Mit dem Begriff der absoluten und der objektiven Wahrheit ist auch der Begriff der "aeternae veritates", der ewigen Wahrheit eng verwandt. 

W.: Irgendwie mag ich solche scholastischen Begriffe nicht ... ewig ist die absolute Wahrheit natürlich: aber nur deshalb, weil sie nichts Endliches (also etwa Wissen) ist (genauso wie Gott "ewig" sein muß, weil er sich ja sonst verändern müßte. Und da sei ja bekanntlich Gott selbst vor ...).

P.: Dieser Begriff, der in metaphysischen oder religiösen Schriften verwendet wird, geht davon aus, daß jede Wahrheit ewig sein muß, d. h. unveränderlich für alle Zeiten und unter allen Bedingungen. 

W.: Eben!

P.: Wenn sich die Wahrheit später ändert, so das Argument, bedeutet das, daß das, was man als Wahrheit angenommen hatte, keine Wahrheit ist. 

W.: Irgendwie schlüssig und logisch. Der Haken liegt nur darin, daß relative Wahrheiten (und nur von solchen ist es sinnvoll zu sprechen bzw. mit ihnen umzugehen) eben nichts anderes sind, als Dafürhaltungen im Hier und Jetzt (und - wenn´s hoch hergeht - im Konnex mit anderen). Ist das Hier und Jetzt vorbei (und der Konnex auch), ist auch die Wahrheit perdü. So einfach ist das - und so wenig spektakulär. Es gibt nichts Wandelbareres, als sogenannte (natürlich: relative!) Wahrheiten. Wahrheiten sind überhaupt nichts wert - genausowenig wie Naturgesetze und Theorien - sie ändern sich so rasch wie´s Wetter ...

P.: Russell stellt drei Forderungen auf, denen seiner Meinung nach jede Theorie der Wahrheit genügen muß: 1. Es muß Falschheit geben können. 

W.: Wie recht er doch damit hat!

P.: ... 2. Wahrheit und Falschheit sind Eigenschaften von Glaubensüberzeugungen oder Aussagen. 

W.: Ein Genie, dieser Russel! Aber dann bin ich auch eines, denn ich sag das gleiche.

P.: ... 3. Die Wahrheit oder Falschheit hängt immer von etwas ab, das jenseits des Glaubens liegt. 

W.: Na endlich! Das ist auch der Unterschied zwischen "absoluter" und "relativer" Wahrheit. Glauben bedarf keiner Intersubjektivität - da bist Du wie Gott und niemandem Rechenschaft schuldig. Konfessionen geben´s da schon billiger - und Parteien noch mehr. Und manche Extremisten sind da ganz mies - keinen Glauben, nur "Wahrheiten" (z. B. Ausländer raus).

P.: Russell vertritt bei der Wahrheit eine Korrespondenz mit Fakten. 

W.: Sagte ich nicht schon, daß dieser Mann einer der Größten war?

P.: Damit Falschheit möglich ist, darf das, womit der wahre Glaube übereinstimmt, nicht ein einzelnes Objekt sein. 

W.: Na sag ich nicht immer, daß Gott keinen Bart hat?

P.: Der Glaube ist nach Russell ein Verhältnis zwischen dem Bewußtsein und einem Faktum ... 

W.: Tja, das sagte ich schon oben: Was jemand für ein Faktum hält, kann ihm niemand ausreden, wenn er es sich nicht ausreden lassen will. Gottgleich eben!

P.: ... d. h. einem Komplex miteinander in Beziehung stehender Objekte. 

W.: Das mit den Objekten wertet die Aussage Russels etwas ab; aber bitte, vielleicht hast Du ihn nur unvollständig zitiert...

P.: Ein Glaube ist wahr, wenn er mit dem assoziierenden Komplex, d. h. dem korrespondierenden Faktum, übereinstimmt, sonst ist er falsch.

W.: Naja, jetzt stimmt´s wieder; da kommen ja auch keine "Objekte" mehr vor ... nur mit dem Unterschied, daß ein Glaube gar nicht falsch sein kann. Denn wer sagt, daß ein Glaubensfaktum mit einem überprüfbaren Faktum identisch sein muß? Russel offenbar nicht (zumindest in dem von Dir Zitierten nicht). Wie ist das mit dem Faktum der Gottessohnschaft Christi? Frag mal einen Juden ... Und komm mir jetzt bloß nicht mit dem "Faktum" des Photons oder Gravitons ... das sind mir ja Engelsflügel lieber, da hab ich was davon ...

P.: Heureka!

W.: Ebenfalls: Heureka, aber mit Einschränkungen

P.: Wahrheit steht also immer im Gegensatz zur Nicht-Wahrheit, ansonsten ist der Begriff sinnlos. 

W.: Hoppla, zieh kein Kaninchen aus der Tasche! "Relative" Wahrheiten müssen tatsächlich immer im Gegensatz zu Nicht-(relativen) Wahrheiten stehen, natürlich (siehe oben). Aber die nicht existierende (aber bitte: nur nicht existierende! Geben tut es sie schon!) Wahrheit (also die absolute!) nicht (sie ist ja auch tatsächlich "sinnlos" im Sinne von "durch die Sinne erfahrbar". Insofern hast Du oder hat Russel recht ...) Aber sinnvoll ist ja auch nur was, das Sinn macht - und Sinne sind allemal auf die Erfahrung beschränkt (siehe voriger Klammersatz). Oder willst Du allen Ernstes behaupten, daß der Begriff ALL-EINES "Sinn" macht? Logisch ist er ein Widerspruch und philosophisch DIE (=absolute) Wahrheit. Aber Sinn?

P.: Wenn es absolute Wahrheit gibt, ist sie absolutes Wissen ...

W.: Nein, nein und nochmals nein. Den ganzen Computerschirm voller Neins ...

P.: ... also alles Wissen über alles Existierende (nicht über das Seiende! - wir wollen aber keine Diskussion über den Begriff des Wissens anfangen, oder?).

W.: Nein hoch unendlich. Aber offenbar sollten wir tatsächlich auch eine Diskussion über den Begriff des Wissen anfangen!

P.: Dieses absolute Wissen ist ein Fluchtpunkt, wie die Parallelen, die einander nie berühren. 

W.: Mach´s kürzer und einfacher: Es gibt kein absolutes Wissen! Es gibt auch keinen absoluten Aschenbecher!

P.: Man sagt, sie berühren einander im Unendlichen (und meint: niemals). 

W.: Jaja, die Axiome ...

P.: Das alles meinst Du, Walter, aber nicht. 

W.: Eben.

P.: Du meinst die reine, absolute Wahrheit, die alternativlos und bewußtseinsunabhängig ist (Deine Worte). 

W.: Dreimal ja!

P.: Du meinst das TAO. 

W.: Ja.

P.: Wenn aber Wahrheit nur sinnvoll ist, wenn es auch Falschheit gibt ...

W.: Ich wiederhole mich: Du vermengst andauernd relative Wahrheiten (also Quantitäten) mit absoluter Wahrheit (=der Qualität). Nur für die unendlich vielen relativen Wahrheiten gilt dieser Dein obiger Satz!

P.: ... dann hat sich das TAO beim Begriff der Wahrheit bereits (in Yin und Yang) gespalten. 

W.: Das ist gut! Das ist sogar sehr gut! Weil es das Nichts nicht geben kann, muß die Negation "von" anderswo her. Natürlich! So muß man es sehen. Ist wirklich toll, was Du da denkst! (Im Juden- und Christentum heißt dies überdies "Sturz des Luzifer"; da muß ja auch die Negation (=das Böse) von irgendwo (also vom ALL-EINEN!) her - also aus sich selbst heraus - emanieren: die Geburt des Widerspruch aus sich selbst!

P.: Es ist dies jedoch eine der fundamentalen oder ausgezeichneten Spaltungen (oder "Verklumpungen" des Kontinuums, wie ich's einmal gesagt habe), in einem Atemzug zu nennen mit Gut und Böse, Freiheit und Abhängigkeit, Schönheit und Häßlichkeit. 

W.: Also fundamental ist diese Splittung allemal! Die Widersprüche Gut und Böse, Freiheit und Abhängigkeit sind allerdings nur relative im Vergleich zur fundemantalen Antinomie. Da geh ich durchaus noch mit: Yin und Yang als Form, und alles andere als stoffliche Füllung dieser Polarität. Anders könnte ich Dir nicht folgen. 

P.: Das TAO ist mitnichten schön oder gut oder wahr. 

W.: Naja. Das gibt Brösel: schön, gut und wahr ist es in dem Sinn, als das Schöne, Gute und Wahre (und Eine), das Sein also, keine Alternative haben bzw. hat. Schon wieder vermengst Du absolut und relativ. Absolut gesehen ist das TAO schön, gut, wahr - und eins. Relativ gesehen natürlich nicht. Aber relativ sehen kann man das TAO ja gar nicht. Es ist ja nichts Relatives und nichts Einzelnes. Was meinst Du mit Deiner Aussage also?

P.: Das TAO ist nicht einmal eins. 

W.: Na, was denn sonst?

P.: Das TAO ist nicht einmal das TAO. 

W.: Du spaltest ja nicht nur Haare, sondern sogar "schon" das TAO!

P.: DAS TAO - IST!

W.: Nona. Und zwar als Seiendes. Aber natürlich niemals als TAO! Könnten wir uns darauf einigen? Dann ist das TAO natürlich nicht "das TAO" (weil es ja keinen Namen als Nicht-Einzelnes haben kann!), sondern bloßes Sein. Und da "bloßes" Sein ja nicht als "bloßes Sein" sein kann (da hätten wir ja die als tatsächlich realisiert gedachte Verdoppelung der Welt der Religionen!), muß es (also das TAO) als die Vielzahl alles Seienden sein. Dann stimmt wieder alles - und ich hoffe, Du hast es so gemeint ...

P.: "Triffst du Buddha unterwegs, töte Buddha!"

W.: Natürlich! Wie sollte ich Buddha (oder Gott, oder das Tao, oder die Welt, oder die Menschheit etc.) "treffen" können? Treffen kann ich immer nur konkretisiertes Einzelnes. Du suchst ja Gott auch nicht mit der Taschenlampe, oder?

P.: Diese besondere Stellung des Begriffes Wahrheit legt es nahe, daß man höchst vorsichtig damit umgeht. 

W.: Ich komm mir jetzt vor wie die Tante Jolesch: Nona!

P.: Was ist Wahrheit? Bevor Du mich fragtest, wußte ich es.

W.: Ich weiß es auch nachher.

P.: Ich muß Christus verteidigen - er hatte recht getan, als er auf die Frage des Pilatus nicht antwortete (ich vermute, Pilatus fragte auch nur rhetorisch).

W.: Tja, da fühle ich mich in diesem Punkt Christus überlegen (und ich hab recht damit, denn der Computer stürzt mir bei solchen Aussagen sonst immer ab; jetzt ist er nicht abgestürzt!)

P.: Die ganze Wahrheit, sagst Du, ist denkbar? 

W.: Denkbar, denkbar! Natürlich! Aber nur als dieser Satz, den Du schreibst oder sprichst natürlich. Dabei aber stets ohne konkrete Inhalte - oder eben alles inkludierend; aber das geht ja gedanklich gar nicht! Denkbar ist "die ganze Wahrheit" also nur als Begriff dessen, was mit ihm gemeint ist. Genauso, wie für mich Gott, wenn ich "ihn" denke, immer nur aus den Buchstaben G und O und T und T besteht. Als Jesus oder Mann mit Bart oder Dreieck mit Aug in der Mitte stell ich "ihn" mir schon längst nicht mehr vor ...

P.: Ja, Sir, die ganze Wahrheit ist denkbar! Doch nur als Abstraktum, wie die unmöglichen Bilder Eschers. 

W.: Ja, jetzt sagst Du das gleiche, wie ich eben oben.

P.: Ich kann mir einen Dämon denken, der alles weiß, was man wissen kann; das fällt mir gar nicht schwer.

W.: Mir schon; ich glaub nämlich nicht an Dämonen ...

P.: Aber das TAO kann ich nicht denken

W.: Doch: als T und A und O ...

P.: Ich war nicht schlampig, als ich sagte, die ganze Wahrheit existiert. 

W.: Doch, warst Du.

P.: Das tut sie. 

W.: Nein.

P.: Sie existiert ... 

W.: Sorry, Sir, no.

P.: ... und Teile von ihr können wir erkennen. 

W.: Nix kannst Du! Und schon gar nicht "Teile" von ihr "erkennen". Erkennen kannst Du Deine Frau, wenn Du bibelfest bist, oder daß ich ein Genie bin ... oder sonst was real Existierendes. Aber sonst nix.

P.: Aber nicht das Ganze. 

W.: Dixi!

P.: Vielleicht können wir das Ganze erkennen, 

W.: Auch nicht.

P.: Jedoch - wer ist "wir"? 

W.: Zwei Beklopfte, die nichts anderes zu tun haben, als klugzuscheißen und sich dabei weiß Gott wie gescheit vorkommen; geh´n wir lieber auf ein Bier!

P.: Ein einzelner Geist kann es nicht. 

W.: Doch! Nur der! Denk an Meister Eckehard!

P.: Deshalb sagte ich, etwas schlampig, die ganze Wahrheit ist unsichtbar.

W.: Eben schlampig!

P.: Das TAO ist

W.: Du wiederholst Dich.

P.: Es existiert nicht

W.: Wie recht Du doch hast!

P.: Wahrheit existiert. 

W.: Ja, viele relativen. Zuviele davon!

P.: Nein, Wahrheiten existieren. 

W.: Jaja, relative! Siehe oben.

P.: Des einen Wahrheit ist des anderen Falschheit. 

W.: Sic Haider und Gusenbauer ...

P.: Wahrheiten und Falschheiten sind nicht einmal zwei Seiten einer Münze, sie sind dieselbe Seite! 

W.: Nun, mit dem Haider möcht ich aber nicht auf einer Münze aufscheinen!

P.: Eine herrliche Metapher fällt mir da ein: Das Gedicht (von Schiller?), in dem ein Künstler Christus malen möchte. Er sucht lange in der Menge nach dem treffenden Gesicht. Dann findet er es. Unübertrefflich, das ist Christus! Er malt das Gesicht. Dann will er Luzifer malen. Er sucht lange in der Menge nach dem treffenden Gesicht. Dann findet er es. Unübertrefflich, das ist Luzifer! Er malt den Teufel. Und erst jetzt bemerkt er, daß er denselben Menschen, dasselbe Gesicht gemalt hat.

W.: Ein schöner Vergleich. Aber vom Haider unterscheide ich mich doch!

P.: Ich meine nicht, alles sei nun beliebig, bei Gott nicht. 

W.: Dagegen tät ich mich auch verwehren!

P.: Wahrheit erkennt man. 

W.: Nein. Man konstruiert sie (sich).

P.: Wahrheit kann man von Falschheit unterscheiden. 

W.: Aber stets nur subjektiv. Und wenn jemand dazu zu feige ist, braucht er eben Intersubjektivität!

P.: Aber es kommt auf den Kontext an. 

W.: Nona. Ich bin ein glühender Anhänger der Korrespondenztheorie. Alles andere ist Schaum!

P.: Und letztlich kann das Gegenteil einer großen Wahrheit auch eine große Wahrheit sein (Niels Bohr) ...

W.: Aber natürlich! Relativitätstheorie versus Quantenmechanik! Simmering gegen Ottakring! Karl gegen Walter!

P.: Die "ganze Wahrheit" hat niemand ... 

W.: Doch: Ich. Aber mit dem haben hast Du natürlich recht. Ich kenne sie, ich weiß sie, ich hab sie erkannt - und doch stimmen alle diese Worte nicht. Also machen wir Nägel mit Köpfen: Was die Wahrheit anbelangt, bin ich weise. So.

P.: ... auch nicht die Philosophie. 

W.: Die hat mehrere "ganze".

P.: Die Quantenwirklichkeit ist wahr. 

W.: Wenn man an sie glaubt.

P.: Sie ist aber nicht die ganze Wahrheit ...

W.: Eh nicht; siehe Relativitätstheorie!

P.: ...und die meisten Physiker geben das freimütig zu. 

W.: Tja, wir gehen schönen Zeiten entgegen: Immer mehr Physiker verstehen auch, philosophisch zu denken!

P.: Sie ist eine Teilwahrheit. 

W.: Klar doch.

P.: Aber der verbleibende Rest (von dem wiederum einen Teil zum Beispiel die eben nicht in quantenphysikalische Aspekte faßbare Wahrheit bildet, daß ich mit einem gewissen Walter Weiss gerne Streitgespräche führe) ist auch nicht die ganze Wahrheit. 

W.: Aber eine andere relative.

P.: Niemand hat die ganze Wahrheit ...

W.: Ich sagte schon: Ich "hab" sie!

P.: ... nicht die Wissenschaft, 

W.: Na, die schon gar nicht!

P.: ... nicht die Philosophie ...

W.: Die schon eher!

P.: ... nicht St. Pölten ...

W.: Hehe ...

P.: ... nicht Moskau ...

W.: Marx, schau oba ...

P.: ... oder Washington ...

W.: Gerade die?

P.: ... und auch nicht der Vatikan.

W.: Die dort am allerwenigsten!

P.: Sogar die Ewige Philosophie ist vergänglich ...

W.: Also, deren Wahrheiten aber nicht!

P.: ...denn wenn es keine Menschen gibt, gibt es auch keine Philosophie ...

W.: Logo

P.: ... und die Wahrheiten, die sie erkennen könnte, verhungern mangels Erkennendem. 

W.: So ist das auch mit der Gravitation. Was machte die, wenn es keine Steine gäbe, die herunterfielen?

P.: Aber das TAO ist!

W.: Absolut. Und wahr. Also die absolute Wahrheit. Siehst Du, jetzt hast auch Du sie gedacht! Also "hast" auch Du sie! Jetzt sind wir schon zwei!

P.: Ich mache Dir ein Angebot: Vielleicht können wir uns darauf einigen, daß die Philosophie zwar nicht die ganze Wahrheit hat, aber die ganze Wahrheit umfaßt

W.: Ich laß ja mit mir reden. Aber ich "hab" sie, davon geh ich nicht runter! Und Du "hast" sie seit Deinem letzten Satz auch! Heureka!

P.: Der Unterschied ist ähnlich wie beim TAO. Das TAO ist nicht irgend etwas ...

W.: Sagte ich bereits!

P.: ... aber es umfaßt alles. 

W.: Nein: es ist alles!

P.: Alles ist aus dem TAO, aber das TAO selbst ist ...
(Schweigen, Zeigefinger nach oben)

W.: Ich erhebe auch meinen Zeigefinger. Vielleicht sind wir gemeinsam stärker?
(Schweigen, Zeigefinger nach oben)

P.: Kommen wir noch zur Weisheit. Du sagtest: "Weisheit ist immer akausal, weil Kausalität eine Kategorie des - vernünftigen - Denkens ist, Weisheit aber die Vernunft transzendiert (und damit auch die Kausalität!)." Das ist nicht ganz richtig.

W.: Doch. 

P.: "Die Weisen sind immer auch klug und zugleich mehr als das" (siehe unten). Insofern die Weisen klug sind, ist Weisheit kausal. 

W.: Klug sein, heißt - ich nehm mal an, daß Du es so meinst! - über viele relative (und intersubjektive!) Wahrheiten zu verfügen; insofern ist da natürlich Kausalität mit drinnen.

P.: Insofern sie aber "zugleich mehr als das" sind und die Klugheit, den Verstand, die Vernunft transzendieren, insofern ist Weisheit in der Tat akausal.

W.: Tja, und so hab ich´s verstanden gehabt. Danke für Dein Entgegenkommen oder besser Verstehen.

P.: Deshalb sagte ich, Weisheit sei auch akausal. Hast' mich?

W.: Hab Dich, weil auch Du mich gehabt hast!

P.: Walter, lieber Freund, ich möchte das hier nicht als klugen Kommentar verstehen. 

W.: Als was sonst? Klug und damit kausal ist er allemal!

P.: Erstens glaube ich nicht, daß ich klüger bin als Du ... 

W.: Also mehr intersubjektive Wahrheiten kennst Du schon - darum beneide ich Dich ...

P.: ... und zweitens halte ich es lieber mit Márai. 

W.: Und schon wieder 1:0 für Dich: Ich kenne diesen Mann nicht!

P.:. Márai Sándor, vor kurzem erst neu entdeckt, wird auch der ungarische Thomas Mann genannt. Seine Bücher sind ziemliche Renner. Er schrieb in einem Band namens "Kräuterfibel" über Klugheit und Weisheit. Und weil's so schön paßt, zitiere ich ihn noch schnell: 
"Kluge Menschen haben mich immer gelangweilt, ermüdet ... Sie beobachteten mich mit schmalen, wachsamen Augen, wie der Jäger das Wild ... ob ich überhaupt klug genug bin, daß sie, die Gescheiten, sich mit mir auf ein Gespräch einlassen ..." 

W.: Irgendwie komme ich mir jetzt vor wie das Kaninchen und die Schlange. Die - kluge - Schlange: Wer meinst Du, ist das?

P.: "... und ich lernte von ihnen nichts Grundlegendes. Meistens haben sie nur erklärt, warum etwas nicht gut sei, das Leben, das Werk des Menschen, der Frühling oder der Herbst." 

W.: Also, das sagt der Márai Sándor. Ich würde sowas nicht sagen ...

P.: " ... Doch sie haben nie gesagt, daß das Leben auch gut sei, der Tod natürlich und der Mensch nicht ganz hoffnungslos ..." 

W.: Also, Du sagst das aber schon auch! Der Márai hat Dich halt nicht gekannt; sonst hätt er nicht so brutal polarisiert ...

P.: "Weil sie so klug waren."

W.: Tja, so klug wie Du wär ich auch gerne.

P.: "Klugheit ist nicht Weisheit." 

W.: Also das ist amtlich!

P.: "Klugheit ist Fertigkeit, nervliche und verstandesmäßige Behendigkeit."

W.: Márai muß Dich vor seinem geistigen Auge gehabt haben!

P.: "Weisheit hingegen ist Wahrheit, Fügung, Verzeihung, Unvoreingenommenheit und Einverständnis."

W.: Aber dafür mußt Du ihm auch Pate gestanden haben!

P.: "Kluge Leute sind nie weise, dazu sind sie viel zu erregt - als wären sie ständig trunken von ihrer eigenen Klugheit ..." 

W.: Tja, Du bist eben auch von einem Márai nicht zu beschreiben, Du sprengst alle Kategorien!

P.: "... doch die Weisen sind immer auch klug und zugleich mehr als das, denn sie wollen nichts beweisen."

W.: Also dahin möchte ich noch.

P.: "Meide die Gesellschaft der Klugen."

W.: Eh klar.

P.: "Sie werden dich nur aufregen und letztlich beleidigen."

W.: Jaja.

P.: "Suche die Nähe der Weisen."

W.: Wenn das so leicht wär!

P.: "Mit Klugen kann man reden."

W.: Noch reden wir!

P.: "Mit Weisen kann man schweigen."

W.: Wollen wir zwei das wirklich?

P.: Vielleicht, lieber Walter, schweigen wir auch ein wenig miteinander? Das TAO möge Dir jedenfalls ein langes Leben bescheren ...

W.: Danke, ich kann´s brauchen. Ich hab noch soviel zu denken ...

P.: ... damit wir noch möglichst lange "streiten" können 

W.: Wär sehr, sehr schön!

P.: Wären wir immer derselben Meinung, wäre das doch fad!

W.: Schon.

P.: Dann also: Liebe Grüße, Karl.

W.: The same to you, but Walter!